Deutschland trägt Maske. Zumindest an vielen öffentlichen Orten. Die Maßnahme dämmt die Verbreitung des Corona Virus ein, allerdings ebenso ein nettes Lächeln in der U-Bahn und in mancher Augen gar die persönliche Freiheit. Die Bedeckung von Mund und Nase verändert und spaltet die Gesellschaft. Kein Gesetz ohne Risiken und Nebenwirkungen.

Bild: Davyn Ben
Was hat die Dame an der Kasse gesagt? Darf ich hier mit Bargeld zahlen? Der normale Wocheneinkauf kommt zurzeit nicht ohne Fragen aus. Die Antworten müssen sich dabei durch Stoffmasken und Plexiglasscheiben ihren Weg bahnen. Verständigung war gewiss schon einfacher.
Seit dem 29. April gilt bundesweit die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und im Einzelhandel. Lieferengpässe erforderten allerdings kreative Eigeninitiative der Bürger. Weil medizinische Masken und filtrierende FFP-Masken erstmal medizinischem Personal vorbehalten waren, surrten in vielen deutschen Haushalten die Nähmaschinen. Die selbstgenähte Maskierung besteht bestenfalls aus zwei bis drei Lagen Stoff, verfügt über ein Innenfach für Filter und kann bei mindestens 60 Grad gewaschen werden. Das Tragen dieser sogenannten Community-Masken soll die Geschwindigkeit des Atemstroms und des Tröpfchenauswurfs reduzieren. Bei korrekter Verwendung kann man so sein Gegenüber schützen.
Eine Studie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zeigt: Die Mund-Nasen-Bedeckung zeigt Wirkung. Dazu wurden die Infektionszahlen der Stadt Jena, die bereits einige Wochen zuvor eine Maskenpflicht einführte, mit anderen Städten verglichen. Demnach gab es viermal so viele Fälle in den Vergleichsgruppen. Stichhaltige Ergebnisse, die Verschwörungstheoretiker wohl trotzdem nicht überzeugen. Denn trotz neuer Sprachbarriere sind die Debatten hitziger denn je. Von Beginn an prasselten Klagen auf die Verwaltungsgerichte ein. Die Kläger sehen die Maßnahme als Verletzung ihres Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit. Ja manche behaupten sogar, die Regierung wolle die Bevölkerung so mundtot machen. Dass das Virus zur Glaubensfrage geworden ist, zeigt sich auch vermehrt in den Bussen und Bahnen des Landes. Immer mehr Menschen verweigern sich der Maske. Ganz ohne Worte werden so Meinungen kundgetan. Ein Lächeln sagt mehr als tausend Worte? Stimmt, momentan sagt mir ein Lächeln in der U-Bahn »Ich scheiße auf deinen Schutz«. Anständige Menschen sollten stattdessen auf Smizing umstellen. Diesen Begriff erfand das Supermodel Tyra Banks kurzerhand in der 13. Staffel America's Next Top Model als Verkürzung von »Smile with your eyes«. Ein Versuch ist es wert. Diese Zeiten können wahrlich mehr strahlende Augen vertragen.
Um sich das emotionsgeladene Thema ein wenig zu verschönern, springt uns zuverlässig die Modeindustrie zur Seite. Sie hat das nicht ganz freiwillige Accessoire der Saison schnell aufgegriffen und sich zu eigen gemacht. Da gäbe es die mittelpreisigen Exemplare von Berliner Designern wie lala Berlin und Dawid Tomaszewski. Pure Dekadenz sind dagegen die Varianten der Marke Off-White, die für bis zu 1000 Euro gehandelt wurden. Der Wunsch nach Individualität und Profilierung macht auch vor Krisen keinen Halt. Doch Mode kann mehr als Abgrenzung. Sie kann ebenso Haltung zeigen. Und so entdecken die Mitteilungsfreudigen die Maske als Äquivalent des Sprüche-T-Shirts. »I wear this mask for you« oder »protect each other« zieren die Designs des nachhaltigen Labels Armed Angels. Und ganz nebenbei gehen 2 Euro beim Kauf an Ärzte ohne Grenzen. Mehr Message geht nicht.
Unsere Realität hat sich verändert. Und vor kurzem hätte ein maskierter Mensch in einer Bank wohl mindestens ein mulmiges Bauchgefühl ausgelöst. Nun tummeln sich Designs mit Punkten, Sprüchen, in hellen oder dunklen Tönen an den Geldautomaten. Masken, die vor einigen Monaten in Europa vor allem in OP-Sälen ihren Platz fanden, gehören heute zum Alltag. Noch im 17. Jahrhundert dienten sie zur Flucht aus selbigem. Bei den legendären Maskenbällen Ludwigs XIV. in Versailles wurde für eine kurze Weile die herrschende Ordnung außer Kraft gesetzt und Standes- wie Geschlechterschranken überschritten. Ein Ausstieg aus dem eigenen Leben. Die Anonymität ließ allerdings im Venedig des 18. Jahrhunderts auch die Gewalt aufblühen. Zum Höhepunkt des Karnevals wurde ausdrücklich empfohlen, Waffen zu tragen, um sich gegen maskierte Schläger zur Wehr zu setzen. Ein Phänomen, das sich zum Glück noch nicht in der neuen Masken-Ära bemerkbar gemacht hat. Dann doch lieber pöbeln statt prügeln.
Auch der Soziologe Manfred Prisching, der sich bereits in seinem Buch Das Selbst, die Maske, der Bluff: Über die Inszenierung der eigenen Person mit dem Verhältnis von Mensch und Maske beschäftigte, schaut entspannt in die Zukunft. Er glaubt, dass wir uns sehr bald an die stoffliche Barriere gewöhnen: »Eigenartig wird das Gespräch, da wir gewohnt sind, Reaktionen vom Gesicht des anderen abzulesen. Und man darf weniger nuscheln. Ansonsten wird die Maske Teil der neuen Normalität – wir sind ohnehin dabei, beträchtliche Teile unseres Alltagslebens auf längere Sicht zu modifizieren.« Es sind sozusagen Wachstumsschmerzen, die wir gerade beklagen. Die Gesellschaft wächst in eine Zeit, die von der Politik so schön »neue Normalität« getauft wurde. Aber mal ehrlich, für die meisten Menschen bedeutet die Maßnahme ein etwas unentspanntes Einkaufen und eine beschlagene Brille. Das lässt sich verkraften.
Wirklich belastend ist die Situation für Gehörgeschädigte. Ihnen nimmt die Maske die Möglichkeit zur Interaktion mit ihrer Umwelt. Viele von ihnen folgen dem alltäglichen Geschehen durch Lippenlesen. Das ist nun unmöglich. Der Hessische Verband für Gehörlose und hörbehinderte Menschen schrieb darum einen deutlichen Brandbrief an das Sozialministerium. Darin wird unter anderem gefordert, dass Hörbeeinträchtigten Masken mit einem Klarschutzteil über dem Mund zur Verfügung gestellt werden und ihnen erlaubt wird, Gebärdendolmetscher in Krankenhäuser und Arztpraxen mitzunehmen. Eine Alternative ist auch das Gesichtsvisier, das zumindest in der Gastronomie und im Einzelhandel immer mehr zum Einsatz kommt. Immerhin findet das Thema nun medial statt, was man bei Fragen der Barrierefreiheit nicht immer behaupten kann.
Generell stiftet die Krise zum genaueren Hinsehen an. Denn das Virus ist so ungerecht, wie die Gesellschaft selbst. Es krallt sich die Schwächsten und macht die soziale Ungleichheit weltweit sichtbar. In den USA hat nicht allein der mörderische Polizeieinsatz, bei dem George Floyd getötet wurde, die Rassismus-Debatte neu entfacht. Schwarze Menschen wurden auch von der Pandemie wesentlich stärker getroffen. Unter den 300 Todesfällen in Washington D.C. waren 250 Afroamerikaner. Auch in Städten wie New York, Chicago und Detroit ist die Schwarze Bevölkerung ungleich häufiger betroffen. Folgen einer strukturellen Benachteiligung und von häufig schlechteren Arbeits- und Lebensbedingungen. Von der miserablen Gesundheitsversorgung mal ganz zu schweigen.
Doch es braucht nicht den Blick über den Ozean, um Ungerechtigkeit zu finden. Davon gibt es genug vor der eigenen Haustür. Deutschland nimmt die Position eines Entwicklungslands ein, wenn es um die Digitalisierung geht. Das ist kein Geheimnis. Wie verheerend die Versäumnisse sind, zeigen nun die Schulschließungen. Wieder einmal musste die viel proklamierte Chancengleichheit der Realität weichen. Ein Zuhause in ländlicher Idylle, aber kein vernünftiges Internet. Viele Geschwister, aber nur ein Laptop im Haus. Verschiedenste Umstände schnitten Schulkinder wochenlang vom Bildungssystem ab. Versäumnisse der Politik werden in diesen Zeiten wie unter einem Brennglas sichtbar.
Das heizt die Stimmung auf. Das verlangt nach Debatten. Die Pandemie, die Einschränkungen und nicht zuletzt die Maskenpflicht geben Anlass zur Diskussion. Und das ist eine Chance. Die Ungerechtigkeiten sind so präsent, dass auch der verdrossenste Nichtwähler politisiert wird. Menschen gehen auf die Straßen: gegen Rassismus, Abwrackprämien, und Grundgesetz-Einschränkungen. Und sie tragen dabei eine Maske.
Die Maskenpflicht mag eine Einschränkung sein, vielleicht ist sie beim täglichen Schwätzchen beim Bäcker etwas hinderlich, doch sie lässt die Menschen nicht verstummen. Die Gesellschaft lässt sich von einem Stück Stoff, egal ob Eigenkreation oder Designer-Teil, nicht den Mund verbieten. Im Gegenteil. Es wird wieder lauthals gestritten auf einem schmalen Pfad zwischen berechtigten Sorgen und absurden Verschwörungstheorien. Merkel nennt die Pandemie nicht ohne Grund eine »demokratische Zumutung«. Doch die letzten Monate haben gezeigt, dass wir das aushalten. Auch eine schwitzige Nase in der U-Bahn.